Meine Eltern sind beide gestorben. Und ich bin Waise.
Ich selbst, 1953 geboren, bin schon lange erwachsen. Zuletzt verstarb meine Mutter
Oktober 2013. Sie hatte meinen Vater um 10 Jahre überlebt. Nach Belgischem Recht
musste ich, um die Erbschaft anzutreten, zwei Formulare unterschreiben; L´héritage“
und „La succession“, die materielle Erbschaft und die „Nachfolge“. Allein schon die
Bewältigung der Übernahme des materiellen Erbes belastete mich überaus. Es
erfolgten Termine in der Bürgermeisterei, bei einer Notarin und bei der Bank. Ich fand
mich konfrontiert mit Regalen voller Bücher und Aktenordner. Es galt auch ein ganzes
Aktenregal mit Unterlagen zu sowohl meiner mütterlichen, als auch meiner väterlichen
Familie zu sichten.
Ich fand u. A. einen Artikel aus dem „Stürmer“. Mein Großvater unterhielt mit meinem
Vater seit 1934 eine Fluchthilfestruktur für Verfolgte des Naziregimes, JüdInnen,
KommunistInnen, SozialdemokratInnen, Flüchtlinge aus dem Osten des „Reiches“,
nach Belgien und den Niederlanden. Sie waren verraten und in Vaals, einem kleinen
holländischen Grenzort festgenommen worden.
Ich fand ein Buch, dass mein Vater mit Paul Henri Spaak, dem ersten Außenminister
Belgiens der Nachkriegszeit, selbst Aktivist des zivilen Widerstands gegen die
Deutschen Besatzer in Belgien, „Gegenspieler“ von Adenauer und De Gaulle und
Mitbegründer der Montanunion und der EWG, zusammengeschrieben hatte:
„Die erste und Hauptaufgabe des antifaschistischen Widerstandes ist der Aufbau eines
vereinten Europas“.
Beim Räumen der Wohnung fanden meine HelferInnen seitenweise Eintragungen
meiner Mutter welchen sozialen und politischen Einrichtungen sie monatlich und über
Jahre hinweg immer wieder kleine und auch größere Summen gespendet hatte.
Ich fand eine Kiste mit unsortierten Photos;
Meine väterliche Großmutter mit meinem Onkel und meiner Tante, den kleineren
Geschwistern meines Vaters, nach ihrer Flucht 1943 aus „Gurs“ einem
Internierungslager in den Pirenäen, versteckt in einem Dorf in der Nähe von „St.
Cyprien“, dem Internierungslager in dem sich mein Großvater, mein Großonkel und,
bis zu seiner ersten gelungenen Flucht, auch mein Vater aufhielten. Mein Vater als
Partisan in der „35. Brigade“, dann als „FTP“ (Franctireur partisan, Freischärler
Partisan)“ in der „Compagnie Marc Hagenau“ bei der Befreiung von Toulouse und
Castre, dann als Soldat der französischen Befreiungsarmee in der Pfalz.
Photos mit meiner mütterlichen Großmutter mit polnischen Zwangsarbeitern, die
meine Großeltern, obwohl selbst bedroht, in ihrem Dorf bis zur Befreiung durch die
amerikanischen und später dann französischen Truppen geschützt hatten. Ich fand die
Tagebücher meiner Mutter seit 1947.
Ich fand schließlich einen ungeheuerlichen Schriftverkehr meines Vaters mit einem
Oberstaatsanwalt aus Düsseldorf. Mein Vater hatte ab 1947 sowohl seine deutsche
Staatsbürgerschaft, als auch Wiedergutmachung für das erlittene Leid seit 1933
beantragt. Der Oberstaatsanwalt verweigerte ihm dies mit der Begründung mein Vater
und seine Familie seien nicht etwa aus „rassischen“, Gründen verfolgt worden,
sondern weil Sie „kriminell tätig“ geworden seien und bezog sich hierbei auf den oben
genannten Artikel aus dem o. g. antisemitischen Hetzblatt.
In seiner Jugend sei mein Vater in Aachen im „Schwarzen Fähnlein“, einer
antifaschistischen Jugendorganisation, tätig gewesen und sei bei „antideutschen
Schmierereien“ erwischt worden.
Ich fand Nachweise zur Verwandtschaft meiner Mutter mit Elvis Presley; er war ihr
Nachcousin. Meine Mutter war eine begnadete Sopranistin im „Europachor“ gewesen.
Wie könnte ich also die Kraft aufbringen dieses geistige, kulturelle und soziale Erbe
meiner Eltern weiter zu verfolgen?
Und natürlich stehe ich in dieser Nachfolge. Schließlich bin ich in meiner Freizeit
Gitarrist, Saxophonist und Sänger in Rockbands und ich habe mein politisches und
berufliches Leben seit Anbeginn den Armen, Ausgestoßenen gewidmet. Ich arbeite mit
Flüchtlingen, Traumatisierten, Sucht- und psychisch Erkrankten.
Strukturell ergibt sich aber auch, dass ich, ganz in der Nachfolge meiner Eltern, nicht
im Vordergrund stehen möchte, sondern Ideen und Initiativen initiiere und dann wieder
verlasse. Dieses „Aktivsein und nicht entdeckt werden“ zieht sich durch mein
Erwachsenenleben.
02.05.2015
G. Levy
